Kurzer Auftritt, lange Geschichte

Die Sulzer Turmbläser pflegen die älteste musikalische Tradition in der Stadt. Jeden Sonntag spielen die Männer zwei Choräle. Die Verlagerung auf den Stockenberg wegen Corona und Digitalvideos bescherten den Musikern viele neue Zuhörer.

Jeden Sonntag stehen die Männer um 8 Uhr und winters um 11 Uhr auf dem Bläserstand im fünften Stock des Kirchturms, Jahr für Jahr und senden ihren melokiösen Morgengruß über die Stadt“: So beschreibt Erwin Eberhardt im „Sulzer Bilderbogen“ 1990 die älteste musikalische Tradition in der Neckarstadt. Mindestens seit dem Jahr 1696 besteht diese Tradition der „Zinkenisten“ nachweislich. Stadtbrände und Kriege sorgten in den bislang über 320 Jahren des Bestehens zwar immer wieder für Unterbrechungen, doch dauerhaft den Standort verlagern mussten die Musiker erst 2020 – wegen des Coronavirus. „Als Zeichen der Normalität in einer verrückten Zeit“ bewahrt die Gruppe unter der Leitung von Wolfgang Müller die von vielen Kernstadtbewohnern geliebte Tradition und musiziert seit April vergangenen Jahres vom Aussichtspunkt am Stockenberg aus. Wind und Wetter sind die aktuell neun Männer dabei ausgeliefert, doch am gestrigen „Weißen Sonntag“ konnten die Turmbläser bei blauem Himmel, Sonnenschein und Windstille auftreten. Die SÜDWEST PRESSE hat die Traditionspfleger besucht. Eine kleine Autokolonne rumpelt an diesem milden Morgen den Feldweg zum Stockenberg entlang, an einer Schafherde vorbei. Wenn nicht gerade Baumpflegearbeiten oder eine Waldbegehung für die Presse stattfinden, sieht man an einem der schönsten Aussichtspunkte hoch über Sulz nie Autos, dafür an Wochenenden zahlreiche Spaziergänger.

Die Männer klettern teils noch etwas müde aus den Fahrzeugen, die Instrumentenkoffer in der Hand, und stapfen am Pavillon vorbei zu dem halbrunden Schild. Die Zeichnungen der wichtigsten Gebäude darauf hat der Betraer Künstler Friedrich Werth angefertigt, der Rotary Club Horb/Oberer Neckar ließ die Hinweistafel im Dezember 2017 aufstellen. Nach und nach begeben sich alle an den jeweiligen Standort und stecken die Noten auf die Ständer, einige scherzen, andere lassen die Ruhe, das Vogelgezwitscher und den Panoramablick auf die tief unten im Tal liegende Stadt auf sich wirken. Kaum ist der letzte 9 Uhr-Glockenschlag des evangelischen Kirchturms verhallt, setzen die Männer die Instrumente an, und es erklingen die ersten Töne von „O Haupt voll Blut und Wunden“, eine Melodie von Hans Leo Haßler vom Ende des 16. Jahrhunderts.

Den Bläserstand, den kleinen Balkon auf dem Turm der evangelischen Stadtkirche, auf dem die Turmbläsertradition in Sulz einst ihre Anfänge nahm, haben die Laienmusiker dabei im Blick. Die Musik hallt klangvoll vom gegenüberliegenden Hang mit dem ehemaligen Steinbruch dahinter zum Wohngebiet Kastell hoch wider. Als zweiten Choral einigt sich das Oktett auf die Kantate „Der Herr ist mein getreuer Hirt“, im Jahr 1731 von Johann Sebastian Bach für den zweiten Sonntag nach Ostern komponiert und damit passend zum 11. April.

Nach knapp fünf Minuten ist der morgendliche Auftritt auch schon wieder beendet, aus einem Haus am Neckar hört man „Bravo“-Rufe und Applaus. Viele Talstadtbewohner lauschen dem kurzen Konzert jeden Sonntag, seit die Turmbläser vom Stockenberg aus spielen, können mehr Sulzer in den Genuss des „melodiösen Morgengrußes“ kommen. „Man hört es von hier aus deutlich besser, nicht nur unten in der Stadt und auf der Schillerhöhe, sondern auch von den vorderen Häusern auf Kastell aus“, weiß Hans Gühring und fügt hinzu: „Unsere Fangemeinde ist seit dem Standortwechsel deutlich angewachsen“.

Die aktuelle Besetzung besteht aus den sechs Trompetern André Amon, Jonas Asprion, Klaus Hirlinger, Gerhard Schäfer und Timo Willi sowie eigentlich Wolfgang Müller, doch aus gesundheitlichen Gründen muss der Leiter der Sulzer Turmbläser und pensionierte Oberndorfer Berufsschullehrer derzeit pausieren. Die Posaunen spielen Hans Gühring und Manfred Maier, die Tuba steuert Torsten Schuklies bei. Mit stolzen 58 Jahren kann Hirlinger auf die längste Zugehörigkeit verweisen: Seit 1963 ist der 67-Jährige Turmbläser. „Da waren fast alle anderen Mitglieder noch nicht geboren“, stellt Gühring fest, der selbst 1979 als damals 14-Jähriger noch vor der Konfirmation in die Fußstapfen seines Vater Karl trat, der die Turmbläser ab den 1950er-Jahren aktiv unterstützt hatte. Auf ein über 40-jähriges Engagement kann zudem Manfred Maier zurückblicken. Jonas Asprion ist mit 16 Jahren jüngstes Mitglied und Hoffnungsträger für eine neue Turmbläser-Generation.

Jonas’ Mutter Kathrin Asprion filmt die Auftritte mit dem Smartphone und postet diese auf Facebook. Dort hat die Traditionsvereinigung über 230 Abonnenten. Die rein männliche Besetzung lässt vermuten, dass Frauen bei den einstigen „Zinkenisten“ nicht mitmachen dürfen, doch dem ist nicht so. Allerdings halfen die bislang einzigen zwei Mädchen nur vorübergehend aus. Welche Choräle am jeweiligen Sonntag erklingen, entscheidet Müller. Die Männer bevorzugen aber alte Choräle und weichen daher teils von den im Kirchenkalender vorgegebenen Musikstücken ab. Längst ist aus den einst rein evangelischen Traditionspflegern übrigens eine ökumenische Formation geworden: Vier der Musiker sind Katholiken. Die Auftritte vom Stockenberg aus, haben nicht nur den Vorteil, dass der Klang weiter zu hören ist, für die Männer entfällt auch der anstrengende Aufstieg über mehr als 100 Treppenstufen. Allerdings gibt es auf dem Stockenberg auch kein Schnäpsle davor und kein Frühstück danach, außer Bürger bringen eine Stärkung vorbei. Nur zwei oder dreimal mussten die Turmbläser bei Regen im Pavillon spielen, und höchstens ein Auftritt im Jahr fällt Minusgraden zum Opfer. Corona hinderte die Musiker indes öfters, denn die Abstandsregeln sind kompliziert. Eine vollständige Rückkehr auf den Balkon streben die Männer nicht an: „Wir würden gerne abwechselnd vom Kirchturm und vom Stockenberg aus auftreten“, verrät Hans Gühring. Die Turmbläser-Tradition trotzt Corona, und auch nächsten Sonntag werden die Männer neben dem Pavillon stehen und viele Bürger mit geistlichen Klängen erfreuen.

Turmblasen: Tradition der „Zinkenisten“ ist in Sulz mindestens seit 1696 bezeugt

Das Turmblasen war ursprünglich eine der Aufgaben des Türmers, Stadtpfeifers oder Ratstrompeters. Derjenige musste für bestimmte Situationen die jeweiligen Hornsignale übernehmen sowie regelmäßig musikalische Auftritte als Solist oder im Ensemble vom Kirch- oder Rathausturm aus absolvieren. Nachdem der Beruf des Türmers abgeschafft worden war, etablierte sich das Turmblasen in vielen Ländern als kirchlicher Volksbrauch durch Laienmusiker sonntags oder zu hohen christlichen Feiertagen. In Sulz ist diese Tradition sicher seit mindestens dem Jahr 1696 verbürgt: Damals erhielt ein „Zinkenist“ namens Kirchhofer einen Lohn von 50 Gulden. Die Bezeichnung „Zinkenist“ rührt von einem alten Blasinstrument aus Holz oder lederbezogenem Holz her, dem sogenannten „Zinken“, auf dem früher gespielt wurde. Teilweise übernahm der Mesner diese Aufgabe. Aus dem Jahr 1745 ist dokumentiert, dass Zeugmacher Leng mittags und abends je zwei Verse in Richtung der Stadt und zwei Verse in Richtung des evangelischen Dekanatshauses „vom Turme abblasen“ musste. Die Stadtkapelle Sulz wurde 1899 aus den Reihen der „Zinkenisten“ gegründet. Alle aktuellen Turmbläser spielen in der Stadtkapelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Turmbläsertradition in Sulz unter der Leitung von Paul Stahl wiederbelebt. Damals waren zudem Martin Müller, Alfred Seeg, Karl Gühring und Gerhard Kopf dabei. Die Auftritte der Sulzer Turmbläser sind jeden Sonntag um 8.30 Uhr vom Bläserstand des Kirchturms der evangelischen Stadtkirche aus sowie an Ostermontag, Heiligabend und Silvester. Wegen Corona lassen die Männer die Choräle seit April 2020 jeweils sonntags um 9 Uhr vom Aussichtspunkt am Stockenberg aus erklingen.